Auf den Umschlag des dritten Bandes seiner großen „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ hat der Historiker Hans-Ulrich Wehler ein Gemälde aus dem Jahr 1889 gesetzt. Es zeigt den Besuch des Großherzogs von Sachsen „in der Eisengießerei von Apolda“. Nichts schien dem Historiker für die Gründerjahre des industriellen Deutschland so bezeichnend wie das Gemälde aus der Eisengießerei. Das Tempo der Industrialisierung illustriert Wehler mit einer Statistik: Zwischen 1850 und 1873 stieg in Deutschland die Stahlproduktion von knapp 200.000 Tonnen auf knapp 1,6 Millionen Tonnen – eine Verachtfachung. Ohne Stahl keine Industrialisierung.

Es ist kein Zufall, dass in Richard Wagners zur gleichen Zeit entstandenen Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ die Eisen- und Stahlbearbeitung mythisch überhöht wird – etwa wenn es erst Siegfried, „der das Fürchten nie erfuhr“, gelingt, das Wunderschwert Nothung zu schmieden. Die Industrialisierung findet im „Ring der Nibelungen“ ihr Echo in der Archaik germanischer Mythen. Hier gelingt Heroen wie Siegfried, was in der Industrie Ingenieurs- und Handwerkskunst kann: Naturbeherrschung in der Stahlbearbeitung. Stahl prägt als Rohstoff der Industriegesellschaft das 20. Jahrhundert. Die Fähigkeit, Eisen herzustellen und zu bearbeiten, markiert einen Wendepunkt in der Geschichte der Menschheit. Stahl ist ein Material, das uns fasziniert, weil sich in ihm Menschheitsgeschichte seit Jahrtausenden zu spiegeln scheint.

Von dieser Faszination erzählen Wolfs Skulpturen. Stahl ist für den Künstler kein austauschbarer Werkstoff. Er ist kein Bildhauer, der sein Formenarsenal an den unterschiedlichsten Materialen erprobt und seine Figuren in Holz oder Bronze, in Ton oder Stein variiert. Für Wolf ist die Materialwahl und -behandlung nicht zufällig, sondern künstlerisch zwingend. Die Auseinandersetzung mit dem Stahl ist ein Kern seines Werkes. Ob er bei einer Skulptur mit einer rostigen oder einer auf Hochglanz polierten Stahloberfläche arbeitet, ist für den Künstler keine rein formale, sondern eine inhaltliche Entscheidung. „Rost und Politur sind die beiden extrem unterschiedlichen, geradezu entgegengesetzten Pole“, sagt Wolf: „Der Rost passiert von selbst. Korrosion bedeutet, Stahl reagiert auf Sauerstoff. Das gibt es nur auf der Erde. Rost ist ein Zersetzungsprozess.“ Mit dem Rost geht es in der Stahlskulptur, wie im Leben des Menschen, um Vergänglichkeit.

Die polierte Stahloberfläche ist geschützt. „Das Wort Politur kommt aus dem Lateinischen und steht für ebnen“, erklärt Wolf: „Vor der Politur besteht die Oberfläche aus Tälern und Erhebungen, sie ist rau. Die polierte Oberfläche ist glatt. Dadurch wird sie wesentlich kleiner. Der Sauerstoff hat deutlich weniger Angriffsfläche. Und der polierte Stahl reagiert schwächer auf Sauerstoff und Wasser. Korrosion ist ein naturgegebener Vorgang. Politur ist menschliche Kunst, die Königsdisziplin, die komplizierteste, aufwändigste, schwierigste Art der Metallbearbeitung. Schon die vor 1000 Jahren aus hauchdünnen Lagen hergestellten Samurai-Schwerter zeigen eine immer noch sichtbare Politur. Heute poliert Zeiss für Weltraum-Teleskope riesige Spiegelflächen. Politur, ob Stahl oder Glas, braucht unendlich viel Zeit, Feinarbeit, Energiezufuhr und Expertise. Die Politur ist nie in letzter Perfektion zu erreichen, das kann immer nur eine Annäherung sein. Die reine Politur wäre göttlich. Stoppe ich die Politur, beende ich diese Energiezufuhr. Dann wird die Stahl-Oberfläche mit der Zeit wieder dem Rost verfallen.“ Der Unterschied zwischen Rost und Stahlpolitur – das ist der Unterschied zwischen Natur und Kultur, zwischen Haltbarkeit und Verfall, auch zwischen Glanz, also raffiniertem ästhetischem Reiz, und spröder, ungeformter, schroffer Oberfläche. Daran knüpfen sich für Wolf weitreichende Überlegungen: „Was den Menschen zum Menschen macht, der Mensch, der die Natur beherrscht, der Homo Faber – das ist der Mensch, der Eisen und Stahl bearbeiten kann“, ist der Künstler überzeugt. „Wir leben immer noch in der Eisenzeit. Das Wissen um die Eisen- und Stahlbearbeitung ist Wissen der Menschheitsgeschichte. Ohne die Pflugschar aus Eisen hätte es nicht erhöhte Produktion in der Agrarwirtschaft gegeben, also keinen Überschuss an Lebensmitteln, keine Menschen, die etwas anderes als Ackerbau und Viehzucht machen können, also keine Städte, keine Wissenschaft, kein Fortschritt. Auch ohne Schwerter wäre die Menschheitsgeschichte sicher anders verlaufen. Das ist der Schlüssel unserer Zivilisation: Schwerter und Pflugscharen.“ Die Menschheitsgeschichte schwingt wie ein gewaltiges Echo in Wolfs Werken aus Stahl mit. Diesem Echoraum der Geschichte tritt Wolf mit einer nüchternen Bescheidenheit gegenüber: „Das ist nicht mein persönliches Wissen. Ich bediene mich dieser alten Künste und Disziplinen. Ich befinde mich in einer sehr alten, langen Tradition der Bearbeitung von Stahl.“

Ohne Eisen und Stahl und die menschliche Fähigkeit, das Material zu bearbeiten, wäre nicht nur die Menschheitsgeschichte anders verlaufen. Wolf geht noch weiter: „Ohne Eisen kein menschliches Leben. Eisenoxyd transportiert in unserem Blut den Sauerstoff. Deshalb haben Blut und Rost die gleiche Farbe. Das Blut ist rot, weil Rost in unserem Blut ist. Blut kann Sauerstoff nur deshalb transportieren, weil das Eisen im Blut oxidieren, also Sauerstoff aufnehmen will. Im Körper ist das Blut heller, als wenn es aus uns herausfließt. An der Luft reagiert es stärker mit Sauerstoff und wird dunkler. Rost ist also nicht nur Zerfall, sondern es ist auch Leben. Ohne Zerfall gibt es kein Leben. Das ist keine wolkige Metapher, sondern beim Rost im Blut einfach eine Tatsache der Biochemie. Mit diesen Zusammenhängen beschäftige ich mich seit Jahrzehnten.“